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Er experimentiert mit metallischem Material. Malt. Dichtet. Sein Leben lang trägt er die Kunst in seinem Herzen. Ausleben kann er sie erst im Ruhestand. Über einen Künstler, der zum falschen Zeitpunkt geboren zu sein scheint.

Auf dem Tisch liegen ein Blatt Papier und zwei Farbstifte. Schwarz und rot. Eine Zeichenstunde wie jede andere. Alle zeichnen ein schwarzes Kreuz, ziehen mit dem Zirkel einen Kreis drum herum. Unruhe tritt auf. Jeder möchte das perfekte Bild, wenn die Blicke des Lehrers das Blatt kreuzen. Der Mann in Uniform ist unberechenbar. Er kann beängstigende Töne anschlagen, bloßstellen und im nächsten Moment einfach unterrichten. Er ist fanatisch. Stifte werden hin und her getauscht. Der Hintergrund akribisch gerötet. Doch einen Jungen interessiert das alles nicht. Rudi. Er malt Bäume. Er hätte auch eine Handgranate malen können. Oder einen Helm. All das, doch er malt Bäume! Oft schaut er einem älteren Gymnasiasten über die Schulter. Dieser malt Landschaften. „Was der kann, kann ich auch”, denkt sich Rudi und legt los.

85 Jahre alt. Künstler durch und durch. Immer gut gelaunt und um keinen Spruch verlegen. Er nimmt das Leben mit Humor. Lebt Humor. „Ernsthafte Gespräche möchte ich nur noch mit Humor führen”, sagt er. Auch mag er Rituale. Sitzt immer auf „seinem” Platz. Trägt in seiner Ideenschmiede Karo-Hemd, Arbeitsweste und Strickmütze. Doch diesmal wirkt er nachdenklich. Anders als sonst. Heute verdeckt keine Strickmütze seine weiße Haarpracht. Erinnerungen holen ihn ein. Erinnerungen an eine Zeit, die prägt. „Diese Zeiten lassen dich nicht los. Umso älter du wirst, desto häufiger denkst du daran. Die sind irgendwo verankert. Da musst du dann selber mit fertig werden.“ Seinen Humor verliert er nicht. Trotzdem.

Die zwei Leben des Rudi Olm - arnsberg

Aufgewachsen auf der anderen Uferseite, in Muffrika, lebt Rudi gemeinsam mit Christa inmitten des Ruhrbogens. Er liebt die Ruhr, sie ist seine Heimat. Nur ein paar Schritte vom Amtsgericht und dem Straßenverkehrsamt entfernt, befindet sich seine Ideenschmiede. Vor dem Haus weisen Ferrum-Objekte auf einen Kunstliebhaber hin. Das Gefühl beim Betreten des Hofes ist jedoch ein anderes. Hier wird schnell klar: Keine Liebelei, sondern Herzblut! Sein Atelier, seine Werkstatt und seine „Betriebskantine”, wie Rudi seinen prall mit antiken Dekorationen aller Art gefüllten Raum inklusive Olm-Theke nennt. Dieser Mann sammelt alles. Ob Werkzeuge, Metall oder antike Deko – es gibt nichts, was es nicht gibt. Schon früh hat er begonnen, metallische Gegenstände zu sammeln. „Altes Metall hat mich schon immer fasziniert”, sagt Rudi. Seine Werkstatt wirkt chaotisch, obwohl alles an seinem Platz zu sein scheint.

Die zwei Leben des Rudi Olm - arnsberg

Gedanklich malt er sich von Berg zu Berg. Im Vordergrund ein starker Baum, dessen Äste sich verzweigen. Im Hintergrund werden die Berge immer schwächer. Die Schattenseite ist das Wichtigste. „Das ist die feuchte Seite. Da wächst Moos dran hoch und die Sonne scheint. Das gibt dem Bild eine Gestaltung”, erklärt der gelernte Schreiner. Seine Augen glänzen und seine Hände schlagen Wellen. Er ist in seinem Element. Im nächsten Moment schwelgt er in Erinnerungen.

Knickerbocker, Schläger und Pfeife

„Mein Vater war ein sehr korrekter Mensch. Schummeln und Hamstern gab´s nicht”, sagt Rudi. Rudi wiegt mit 14 Jahren gerade einmal 42 Kilo. Abgemagert. Schwach. Ein benachbartes Ärztepaar ist geschockt und will helfen. „Der Frau war ich ans Herz gewachsen”, erinnert sich Rudi. Der Mann sitzt im Medizinalrat und sein Bruder ist Chefarzt in der Sanitätsklinik Hellersen. Rudis Fahrkarte in eine ärztliche Behandlung. Nach einigen Voruntersuchungen kommt er auf den Kohlberg ins Krankenhaus. „Da haben ´se mich dann wieder aufgepäppelt!”

Rudi inmitten der Kriegsrückkehrer. TBC-Lungenkranke. „Ich war der Jüngste da oben”, sagt er. Jeden Kilo, den er zunimmt, protokolliert er in einem kleinen Heftchen. „Das Heftchen hab ich heute noch!”

Auf dem Kohlberg trifft er auf viele Menschen. Musiker, Maler, Zauberer, Schauspieler. Künstler. Und auf Franz-Josef Blaschke. Er ist einer der Kriegsüberlebenden, die vorübergehend im SGV-Kohlberghaus eingerichteten TBC-Krankenhaus behandelt werden. Er sitzt wieder in der Natur und malt. Animiert Rudi, zeigt ihm, was dahinter steckt. Rudi darf ihm Modell sitzen. Später soll Professor Blaschke unter anderem als Porträtzeichner Karriere machen. Rudi entdeckt in dieser Zeit die Welt der Möglichkeiten. Andere Wege. Begegnungen, die in Erinnerung bleiben.

Doch er ist noch jung. Zu jung, um sich der Kunst zu verschreiben. Die Familientradition ruft. Erst gerade hat er seine Lehre zum Schreiner begonnen. Mit 14. Er ist nicht einmal groß genug, um an der Hobelbank zu arbeiten. Aber er muss. Hocker unter die Füße, fertig. „Als Schreinerbetrieb bauten wir auch die Kojen auf, wo die Künstler dann ihre Bilder aufhängen konnten.“ Rudi lächelt wieder. Seine Augen sind weit geöffnet. „Es war immer interessant, mit diesen Leuten zusammen zu sein. Damals trugen sie noch Knickerbocker, Schläger und Pfeife. Die waren ganz anders. Ich habe diese Menschen immer bewundert. Die waren so frei!”

Doch Rudi wird in eine Familie mit vier Kindern hineingeboren. Da geht es ums reine Überleben. Alles andere als Freiheit. Es geht um den Betrieb – die Schreinerei. „Wie komme ich hier raus?”, Rudis Blick senkt sich. Eine Lösung gibt es nicht. Unterstützung durch die Familie? Fehlanzeige. „Lass den Quatsch, mach was Ordentliches”, schimpft sein Vater, wenn Rudi den Stift schwingt. Die Konkurrenz in Arnsberg ist groß: 23 Schreinereien, wenig Arbeit. „Wir entwarfen Kleinmöbel, versuchten aus diesem Handwerklichen herauszukommen”, so Rudi. Anfangs gelingt es. Doch die Großindustrie lässt nicht lang auf sich warten. „Da waren wir platt.”

Tag für Tag 90 Kilometer, die Rudi für seinen neuen freiberuflichen Job in einer Firma, die Möbel für Karstadt herstellt, fährt. Doch er findet etwas Besseres. Zeitungsfahrer bei der Westfälischen Rundschau – 360 Kilometer jede Nacht. Die IG Druck und Papier ist die beste Gewerkschaft. Nachts von Dortmund aus durchs Sauerland heißt: Nacht- und Feiertagszuschlag, plus Krankenkasse und Rentenversicherung. „Da hab ich richtig Geld verdient”, erinnert sich Rudi. Genug, um die Fahrlehrerfachschule zu besuchen, in die Fahrschule der Sippe Hoevel einzusteigen und in Oeventrop eine Zweigstelle zu eröffnen. Seine Frau Christa hatte damals die Fahrschule ihres Vaters in Arnsberg übernommen. Später stiegen erst ihr Bruder und dann Rudi mit ein.

64 Jahre sind die beiden ein Paar, 54 Jahren verheiratet. Sie teilt seine Leidenschaft für Kunst, besucht gemeinsam mit ihm Ausstellungen und unterstützt ihn, wo sie nur kann. „Manchmal nicht ganz einfach“, sagt sie. Zwischendurch malt er immer – doch auch hier geht der Job vor. Als Fahrlehrer ist das kinderlose Paar oft zehn Stunden am Tag unterwegs.

Zeit für Phantasie

Immer wieder malt Rudi, porträtiert Menschen, markante Gesichter. Besondere Typen. „Ich konnte es einfach nicht lassen”, grinst er augenzwinkernd. Er ist 47 Jahre alt, als er die Meisterklasse unter der Leitung von Prof. Albert Bitran der „Schule des Sehens” besucht. „Da konnte man Arbeiten einsenden, und das habe ich einfach gemacht!” Denn Rudi hat einen Plan. Er will nicht bis zur Pension warten, um endlich sein Herzensprojekt zu starten. Er will ausbrechen. Raus aus der Zwangsjacke des bürgerlichen Lebens. Endlich malen und experimentieren. Erstmals zeigt Rudi seine Werke in einer Ausstellung auf der Hohensalzburg. Sein erstes Eisenbild dient der Erinnerung an den Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen am 1. September 1939.

Rudi geht Anfang der Neunziger in den Ruhestand. „Endlich brauchte ich mir keine Sorgen mehr ums Morgen zu machen. An jedem Ersten hatte ich mein Geld auf dem Konto – ob ich nun etwas getan hatte oder nicht.“ Zum ersten Mal in seinem Leben. Endlich hat er Zeit. Zeit zum Leben. Zeit für die Kunst! Von nun an experimentiert er jede freie Minute. Erschafft ein Kunstwerk nach dem anderen. Christa wird zur rechten Hand. Managt Broschüren, Flyer, Kataloge. Dokumentiert alles.

Das Atelier wirkt aufgeräumter als Rudis Werkstatt. Liegt wohl daran, dass hier keine Metall- und Werkzeugsammlungen zu sehen sind, sondern Kunstwerke, die er im Laufe der Zeit erstellt hat. Bunt und schrill. Die „Vitathek” fällt direkt ins Auge. Drei kolorierte Kühlschränke, präpariert zum Thema „Kunst und Körper”. Gefüllt mit Kassettenrekorder, Literatur, Spielen und Sportgeräten. Bevor Rudi die erste Kühlschranktür öffnet, sucht er sich ein passendes Utensil heraus. Eine gebogene Gabel soll es sein. Er hätte auch einen gelochten Löffel nehmen können. Im nächsten Moment ertönt Musik. Rudi hat den ersten Kühlschrank geöffnet. Auch im zweiten und dritten Kühlschrank steckt Musik. Natürlich ein anderer Radiosender, sonst wäre es langweilig.

Geld verdient er mit seiner Kunst nicht. Auch die Gelder, die durch Einzelverkäufe an Kunstliebhaber, Ausstellungen oder Workshops innerhalb des Kunstsommers und in Kooperation mit der Phantasiewerkstatt reinkommen, steckt er direkt wieder in seine Kunst. Im nächsten Moment hält er ein altes Kästchen in der Hand. „Die hab ich vom Schrottplatz geholt”, erklärt er. So einfach ist das heutzutage nicht mehr. Aber wenn man freundlich ist, meint Rudi, dann geht das schon. „Wer die wohl schon alles in der Hand gehabt hat?”, fragt Rudi, während er mit dem Finger versucht, die alte Kaffeedose von festgebrannten Staub zu befreien. Er weiß noch nicht, was er damit anfangen wird, auch wenn er normalerweise schon während des Sammelns eine Idee hat.

„Wer hat und kann und tut es nicht, der ist ein arger Bösewicht”

Rudis Motto ist einmalig. Er mag Zitate. Sammelt auch sie. Überall, wo er einen schönen Spruch findet, macht er Halt. Mittlerweile ist nicht nur seine Geldbörse voll damit. Doch dieses Motto ist seins. Ganz allein seins. Auch Gedichten kann er nicht ausweichen, schreibt selbst und sammelt auch diese Werke. Ein Gedicht, das ihm besonders gefällt, ist von Georg Less. Der 1981 in Neheim geborene Schriftsteller schrieb ein Gedicht zur Europablume – das Kunstwerk in Arnsberg, das Rudi 2004 bekannt macht. 25 Kugeln, künstlerisch gestaltet, zieren den Kreisverkehr an der Böhmerstraße. Eine Idee von Rudi, die zunächst innerhalb des Kunstsommers umgesetzt werden soll. Doch Arnsbergs Bürger sind von dem Symbol für die zu der Zeit aus 25 Nationen bestehende Staatengemeinschaft so angetan, dass sie stehen bleibt. „Tag und Nacht haben wir an den Kugeln gearbeitet, Christa und ich”, erläutert Rudi. „Das war eine Menge Arbeit, jede Kugel bemalten wir von innen per Hand!” Nur wenige Jahre später soll diese „Blume für Europa”, diesmal mit 27 Kugeln, auch in Bad Hersfeld stehen. Das Gedicht des im Jahre 2016 mit dem Förderpreis des Landes NRW für junge Künstler und Künstlerinnen gekürten Dichters ziert eine Zeit lang sogar eine U-Bahn in Amsterdam, erzählt Rudi. Ein bisschen stolz ist er darauf schon. „Ohne Christa hätte ich das nicht geschafft. Als Künstler ist es wichtig, dass du eine Frau hast, die deine Leidenschaft voll und ganz unterstützt!”

Die zwei Leben des Rudi Olm - arnsberg

Acht Meter hoch und fast sieben Meter breit zeigt sich der Graf Gottfried-Baum im Kreisverkehr Trihaus in Neheim. Das an die Waldschenkung des Grafen im 14. Jahrhundert erinnernde Kunstwerk entsteht 2012. Ein weiteres Projekt aus der Ideenschmiede Olm. Von den kunstinteressierten Neheimer Unternehmern Dieter Henrici und Horst Kloppsteck finanziert, helfen viele Mitarbeiter und Azubis der Firma BJB seinerzeit mit, dieses Werk zu erstellen. Auch darauf ist Rudi stolz. Dass er diese Idee umsetzen kann, zeigt, dass er es geschafft hat, sich in Arnsberg einen Namen zu machen. „Es ist nicht leicht, als Künstler in Arnsberg Fuß zu fassen. Da braucht es Menschen, die an einen glauben”, sagt er.

Damals ist das Künstlerpaar auch auf der Berlinale, lässt keine Documenta aus und besucht viele Ausstellungen namhafter Künstler und alter Bekannter. „Es ist gut, dass wir das alles gemacht haben – heute ginge das nicht mehr”, meint Christa. Heute ist sie froh, dass es auch keine Workshops mehr gibt. Zu viel Arbeit. In diesem Jahr möchten die beiden einmal die anderen Künstler während des Kunstsommers besuchen und endlich Zeit zu zweit genießen. „Das haben wir nie geschafft!”

Die zwei Leben des Rudi Olm - arnsberg

Rudi lebt zwei Leben – das des verlässlichen Realisten und das des freigeistigen Künstlers. Doch eins liegt Rudi noch auf dem Herzen. Sein Blick schweift in die Ferne. Kurz stockt sein Atem. „Ich weiß nicht, was aus meinem Lebenswerk wird!” Oft wird er danach gefragt. Echte Gedanken haben sich Rudi und Christa jedoch noch nicht gemacht.

Info: Zum Tag der offenen Ateliers am Sonntag, 27. August, öffnet Rudi Olm seine Ideenschmiede in der Eichholzstraße 20 in Arnsberg. Von 14 bis 18 Uhr ist jeder Gast willkommen.

 

Text und Fotos: Thora Meißner

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