Düdinghausen. Es Erinnert an eine Krabbelgruppe auf dem Spielplatz: Acht Dreikäsehochs rennen wie Wild umher, springen, toben, fallen übereinander, schubsen sich gegenseitig an, wenn einer Verschnauft, und erkunden die Welt.
Die Mamas gucken dem tollen Treiben zu, rufen immer mal wieder mit tiefer, mahnender Stimme dazwischen, schütteln die Köpfe und versuchen, in dem wilden Rudel die eigenen Kleinen im Blick zu haben. Zwei Mütter geraten kurz aneinander, vielleicht haben sie unterschiedliche Ansichten zu Erziehungsmethoden. Einen kleinen, aber feinen Unterschied zu menschlichen Pendants gibt es: Die Protagonisten dieses fröhlichen Gewusels sind keine Kleinkinder mit ihren Mamas, sondern Braune Haarschafe – die jüngsten davon gerade einmal drei Tage alt. Sie gehören Hans-Dieter „Hansi“ Gerbracht aus Düdinghausen und stellen eine ganz besondere Tierrasse dar. Schafe ohne Wolle Denkt man an Schafe, denkt man erstmal an Wolle. Falsch. In diesem Fall. Denn die Schafe von Hansi Gerbracht sind „Nolana-Schafe“. Lana heißt Wolle und Nolana dementsprechend also „keine Wolle“.
Warum genau gibt es Schafe ohne Wolle? Dazu holen wir weit aus: Landwirtschaft hatten die Gerbrachts schon seit Generationen – wie eben viele Familien im Sauerland. 1970 schafften sie die Kühe ab, später auch die Schweine. Stattdessen zogen Schwarzkopf-Schafe ein, eine Rasse mit den besagten schwarzen Köpfen und wuscheliger Wolle, die man oft auf den Weiden sieht und die auch für die legendäre Kinderfigur „Shawn das Schaf“ Pate stand. Weitere Rassen wie Texel- oder Suffolkschafe kamen nach und nach über die Jahre hinzu. 2007 brannte dann ein Teil des Stalls ab. Aufbauen oder aufgeben, lautete somit die Frage für die Gerbrachts. Aufgeben auf keinen Fall, aber den Arbeitsaufwand mit den gewichtsmäßig recht schweren Tieren und den regelmäßig erforderlichen Schuren reduzieren, zumal die Preise für die Wolle nicht mehr rentabel waren, lautete die Antwort. So kam es, dass Hansi Gerbracht die Hobbyschäferei der Familie als Biobetrieb zertifizieren ließ und begann, sich mit Schafen zu beschäftigen, die einen natürlichen Haarwechsel haben, also wie alle anderen Tiere in der Natur von selbst im Frühjahr ihr Winterfell verlieren, was ja eigentlich der Natur entspricht. Solche Schafrassen nennt man „Haarschafe“. Ein auch hierzulande bekanntes Beispiel sind die in unseren heimischen Wäldern verbreiteten Mufflons, die zu den Wildschafen zählen.
Ein kleiner geschichtlicher Exkurs: Schafwolle oder vielmehr die Fasern von Schaffellen werden in Asien seit ca. 7.000 Jahren, in Europa seit ca. 5.000 Jahren genutzt. Ungefähr 1.200 v. Chr. begannen die Menschen in der Eisenzeit, gezielt Schafe mit dickerem Vlies zu züchten. Weil es früher sehr mühsam war, aus den Wollfasern Fäden zu spinnen und zu verarbeiten, galten wollene Kleidungsstücke lange als besondere Kostbarkeit.
Zurück aus der Eisenzeit ins Düdinghausen der Gegenwart: Schafe ohne Wolle, gut und schön. Aber warum spielt ein Ort aus unserer HEIMATLIEBE-Region dafür eine besondere Rolle?
Neue Schafrasse
Mit einigen Gleichgesinnten begann Hansi Gerbracht, Wollschafe mit bereits bekannten Haarschafrassen zu kreuzen und so nach und nach die Anlagen für Hörner und für Wollvlies weg zu züchten und einen natürlichen Haarwechsel zu erreichen. Dazu sollten die so entstandenen Tiere nicht zu schwer und möglichst unkompliziert in der Haltung sein, also robust in Bezug auf alle Jahreszeiten und „leichtlammig“, das heißt, eher kleine leichte Lämmer, die die Schafmütter in fast allen Fällen alleine ohne Hilfe auf die Welt bringen können. Meistens werden Zwillinge geboren, auch Drillinge sind keine Seltenheit. Über mehrere Jahre wurden die Tiere, die die besten der gewünschten Merkmale aufwiesen, immer wieder neu gekreuzt. Das Zuchtprojekt hieß „Nolana-Schaf“ – Lana heißt Wolle, no lana demnach keine Wolle. Nach gut zehn Jahren, genauer im Herbst 2018 war dann tatsächlich das Ziel erreicht: Eine neu entstandene Rasse, nämlich das „Braune Haarschaf“ wurde erstmals nach sehr eingehender Überprüfung ins Zuchtbuch eingetragen. Als Zucht- oder auch Herdbuch bezeichnet man in Fachkreisen ein Verzeichnis eines anerkannten Zuchtverbandes, in dem Zuchttiere mit ihren Abstammungsmerkmalen und Eigenschaften aufgeführt sind, deren Qualität für die Zucht also quasi schriftlich dokumentiert ist. Einige Schafe von Hansi Gerbracht sind in diesem Zuchtbuch als „Gründerschafe“ und damit als „Urahnen“ der neuen Rasse registriert. Wenn Tiere im Zuchtbuch eingetragen werden – also „gekört“ – werden sollen, müssen sie eine Art Prüfung bestehen, bei denen ihre Rassemerkmale wie Körperbau, Gewicht und eben das Fell genau bewertet werden. Dieses Vorgehen gibt es u.a. auch bei Pferden, Rindern oder Hunden. Der Wert eines Tieres, das gekört wurde, und auch seiner Nachfahren steigt deutlich an.
Unkomplizierte Haltung
Von ihrer Wichtigkeit für die Zucht ahnen die kleinen Lämmer unterdessen nichts. Nach einer knappen Stunde Getobe mit der resignierenden Erkenntnis, dass eine Tüte Flöhe vermutlich einfacher zu fotografieren ist als acht energiegeladene Lämmer, kehrt Ruhe in der großen Laufbox ein. Die lieben Kleinen sind müde von so vielen neuen Eindrücken. Einem nach dem anderen knicken die Beine weg zu einem Nickerchen. Auch die drei Mütter wirken erleichtert und kauen in Ruhe am Stroh. Ein viertes Schaf im Stall ist gefühlt so breit wie hoch und hat die Geburt noch vor sich. Die werdende Mutter heißt „Essiggurke“ und ist mit sechs Jahren das älteste Schaf in der Herde. Kleiner Spoiler: Sie wird fünf Tage nach dem Fototermin nicht die aufgrund ihres Umfangs erwarteten Drillinge, sondern ein gesundes Riesenlamm bekommen. Die anderen Schafe draußen auf der Wiese – 30 Mutterschafe und am Ende der Lammzeit rund 30 bis 40 Lämmer – haben keine Namen, nur ihre registrierten Ohrmarken. Aber Hansi Gerbracht kennt sie trotz ihrer Ähnlichkeit alle ganz genau. Mit einem Eimer Kraftfutter lassen sie sich zu einem kurzen Fotoshooting überreden und ziehen dann wieder ganz unbeirrt in den Schneeregen hinaus. Dabei ist gut zu sehen, wie die feinen Regentröpfchen auf dem glatten Fell liegenbleiben und abperlen – genau so soll es sein. Einige der Schafe sind noch tragend. Erst kurz vor der Geburt werden sie für ein paar Tage in den offenen Strohstall geholt. Woher weiß man so genau, wann die Lämmer kommen? Dazu gibt es einen Trick beim Decken: Der Bock bekommt einen Farbstrich zwischen den Vorderbeinen. Wenn die weiblichen Schafe somit Farbe auf ihrem verlängerten Rücken haben, bedeutet es in fast allen Fällen, dass sie nach 150 Tagen Tragezeit lammen werden.
„Nolana-Netzwerk“
Die Züchter der Braunen Haarschafe sind in ganz Europa zu finden und eine eingeschworene Gemeinschaft. Neben regelmäßigem Austausch von Informationen für Zuchterfolge und auch Tieren haben sie den Verein „Nolana-Netzwerk Deutschland eV“ und treffen sich jährlich; das nächste Mal am 14. September in Düdinghausen. Eine leider traurige Anekdote am Rande: Der Bock, von dem viele der im Frühjahr 2024 in Düdinghausen geborenen Lämmer stammen, kommt aus der Herde am Niederrhein, in der immer wieder die Wölfin Gloria wütet. Ein Thema, das wohl alle Nutztierhalter zunehmend besorgt. Noch hat es in Gerbrachts Herde keine Probleme gegeben, obwohl vor ca. einem Jahr ein Wolf nur einige Kilometer entfernt gesehen wurde und in Hallenberg im Herbst 2023 ein Schaf auf der Weide genetisch nachgewiesen von einem Wolf gerissen worden ist. Ein paar Wiesen weiter residiert Bock „Hans Harry“ mit seinem jungen Nachfolger und ahnt nichts von seiner reichen Kinderschar. Als wäre er sich seiner Wichtigkeit bewusst, schmeißt er sich fürs Foto extra in Pose und reckt seine stattliche Mähne – auch ein spezielles Zeichen für seine Rasse. Es wird noch einige Monate dauern, bis er und sein junger Genosse wieder in weibliche Gesellschaft dürfen – und dafür sorgen werden, dass die Braunen Haarschafe auch von Düdinghausen aus weiter Fans in der ganzen Welt finden werden.
Text: Rita Maurer
Fotos: Rita Maurer