Leben in den „Goldenen Zwanzigern“

Von der Liebe zu einer anderen Epochen

In den 1920er Jahren brach unsere Gesellschaft in die Moderne auf. Es war ein Jahrzehnt der politischen und gesellschaftlichen Zeitenwende, es war eine Blütezeit von Wirtschaft und Wissenschaft, Kunst und Kultur. Die Städte entwickelten sich zu pulsierenden Metropolen. Eine neue Zuversicht und Hoffnung, ein neuer freizügiger Lebensstil und Glamour prägten die „Goldenen Zwanziger“. Der „Herrenverein Schönau/Altenwenden – für historische Brauchtumspflege in adretter Art und Form“, der sich im vergangenen Jahr gründete, erinnert an diese Zeit.

Benjamin Grauer und seine Familie sind Zeitreisende und leben aus Überzeugung in den 1920er Jahren. Der „Herrenverein Schönau/Altenwenden – für historische Brauchtumspflege in adretter Art und Form“ besteht zwar ausschließlich aus Männern, Frauen und Kinder sind indes bei allen Unternehmungen integriert. Der Hahn, „Le Coq“, ist das Erkennungszeichen des Vereins. „Wir sind die schönen Hähne“, sagen die Herren.

Wenn Benjamin Grauer seine beruflichen Pflichten als Stabsfeldwebel für den Tag erledigt hat, dann tauscht er seine Uniform gegen Alltagskleidung. Indes besteht die nicht aus Jeans und Jogginghose. Nein, es ist ein Dreiteiler wie er vor gut einem Jahrhundert üblich war. Aus Tweed, die Hose mit Vorderhosenfutter, französischen Taschen und Schneiderbundverarbeitung. Dazu Hosenträger und Krawatte. Und auch die Taschenuhr ist obligat. Der 45-Jährige, der dem Verein vorsteht, hält es mit Karl Lagerfeld: Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.

Stil und Haltung

„Sich schick zu machen, gut gekleidet zu sein, ist Ausdruck innerer Haltung, des guten Stils und Umgangs. Leider haben das insbesondere die Männer verlernt“, sagt Grauer, der mit seiner Familie in Schönau auf einem Aussiedlerhof lebt. Hier atmen die Räume den Geist vergangener Zeiten: Tapeten, Möbel, Geschirr. Eine Schellackplatte spielt leise Wiener Klassik.

Ein Dutzend Männer gehören dem Herrenverein an. Sie kommen aus Südwestfalen, dem mittleren und dem nördlichen Hessen. Einige von ihnen kennen sich schon lange von Living History-Unternehmungen oder museumspädagogischen Tätigkeiten für unterschiedliche Epochen. Was sie alle eint: Ihr großes Interesse für Geschichte und insbesondere die Liebe zu den 1920er Jahren. Dafür besuchen sie Galerien und Sammlungen, sind auf der Suche nach Stücken aus jenen Tagen, bespielen Märkte oder organisieren Veranstaltungen, deren Erlöse sie sozialen Zwecken spenden.

Geschichte authentisch leben

Gleichwohl: Jene Zeit zwischen dem I. Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise und schließlich dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte ist für die Herren weit mehr als nur ein Hobby. Sie integrieren sie zu einhundert Prozent in ihren Alltag. „Das sorgt nicht selten für erstaunte und auch fragende Gesichter“, sagt Grauer. „Es geht um Authentizität“, erläutert Martin Bäume aus Hilchenbach, der auch zum Vorstand gehört. Was er damit meint: um Geschichte möglichst realitätsnah zu leben, reicht es nicht, sich auf ein Wochenende, ein paar Tage oder Stunden zu beschränken. So hat man sich auch der Forschung verschrieben.

„Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen, hatte dadurch direkten Kontakt in die 1920er. Aber ich weiß ja längst nicht alles.“ Bäume beispielsweise experimentiert mit alten Gerichten, benutzt dazu originale Utensilien, Töpfe und Pfannen. Und er versucht anhand von alten Liederbüchern dem damaligen Lebensgefühl nachzuspüren. „Hören und Schmecken gehören zweifelsohne dazu. Da kommt auch mal eine Flasche Wachholder auf den Tisch.“

Mirko Hirschfeld aus Erndtebrück und Dennis Hofacker aus Rhode komplettieren den Vereinsvorstand. Mirko ist von Beruf Brauer. Abseits seines Berufs trägt er den Alltagsanzug eines Arbeiters aus den 1920ern und handelt mit antiker Kleidung. Dennis ist Ingenieur und geht mit seinem historischen Outfit auch ins Büro. Was ihn an dem damaligen Jahrzehnt besonders fasziniert: Persönlichkeiten wie Gustav Stresemann. „Sein Engagement gilt als Symbol der Goldenen 1920er Jahre. Er erreichte mit seiner Politik der Annäherung, insbesondere zu Frankreich, eine Entspannung der europäischen Beziehungen und war ein lupenreiner Demokrat.“ Was Dennis und seine Mitstreiter damit meinen: Ein Eintauchen in die Geschichte ist lohnenswert und wertvoll und weit mehr als eine sentimentale Sehnsucht oder wehmütige Zuneigung zur Vergangenheit. Es geht ihnen um den Austausch, auf vielen Ebenen. Oder, um es mit Schiller zu sagen: „Es gibt keinen (…), dem die Geschichte nicht etwas Wichtiges zu sagen hätte.“

Birgit Engel [Text] Gerrit Cramer | privat [Fotos]