Und was war mit mir?

Einige waren Nachbarn. Unter diesem Titel hat die Stadtbibliothek Neheim gemeinsam mit dem Bildungsbüro der Stadt Arnsberg im ersten Quartal zu einer Wanderausstellung des United States Holocaust Memorial Museums eingeladen. Täterschaft, Mitläufertum und Widerstandim Nationalsozialismus. Auf den Spuren der Frage, wie der schleichende und grausame Prozess der Entwürdigung und schließlich Ermordung von rund 6 Mio. Jüdinnen und Juden möglich war.

Passivität und Gleichgültigkeit, egoistische Motive und sozialer Druck – die Gründe, wie es ab 1933 so weit kommen konnte, sind vielfältig. Die Möglichkeiten, was wir als Einzelne tun können, damit so etwas nie wieder passiert, nicht gering. „Es ging uns auch darum, mit der Ausstellung für Gefahren der Gegenwart zu sensibilisieren und dazu anzuregen, die eigene Haltung zu hinterfragen“, erläutern Sylvia Hölter vom Bildungsbüro und Jutta Ludwig von der Stadtbibliothek Arnsberg. Die Kooperation der beiden Fachdienste hat es ermöglicht, die Ausstellung nach Arnsberg zu holen.

Erinnerung an alte Schrecken

22 große Roll-ups mit historischen Hintergrundinfos, hochformatige Bilder von Straßenszenen, ein Film unmenschlicher Erniedrigung und viele individuelle Schicksale. Das Gedankenkarussell ist angeregt: Was wäre gewesen, wenn ich vor 90 Jahren dabei gewesen wäre? Was würde ich tun, wenn es heute wie damals wär? Könnte ich Täterin oder Mitläuferin sein, Widerständlerin, Opfer? Was, wenn es morgen käme, wie wir heute hoffen, dass es nie wieder sein wird? – Viel wäre, würde, könnte, wenn. Vielleicht lassen sich inhumane Schrecken, die an den Nationalsozialismus erinnern und heute in neuem Gewand drohen, nur im Modus des Konjunktivs ertragen. Dass manches mehr ist als bloßes Gedankenspiel, davon zeugt der mediale Spiegel der letzten Monate: eine deutliche Zunahme antisemitischer Straftaten, wachsende Islam- und Fremdenfeindlichkeit, antiliberales Querulantentum, eine hitzig geführte Migrationsdebatte und eine AfD, deren aktuelle Umfragewerte die traurige Wahrheit mitbringen: Rechtsextremismus und Ausgrenzung sind auch in dieser Region in der „Mitte“ der Gesellschaft angekommen. Unsere Demokratie ist längst nicht mehr so selbstverständlich, wie sie einmal schien. Dem gegenüber steht ein lautes „Nie wieder ist jetzt!“. Ein Aufruf zu Menschlichkeit, Vielfalt und Toleranz, zu Engagement und Zivilcourage, wie er am 2. Februar auch auf den Kundgebungen in Arnsberg und Sundern zu lesen und zu hören war. Ein Aufruf im Indikativ. Weckruf und Selbstvergewisserung aller, die nicht bloß zusehen wollen, sondern beteuern: dass unsere Demokratie noch lebendig ist, wehrhaft und bunt.

Wie viel Macht haben wir?

Rund 3500 Protestierende unterschiedlichster Herkunft und Altersklassen folgten der Einladung der Organisatoren auf den Neheimer Marktplatz. Während sich drinnen, im Gebäude der Stadtbibliothek die Ausstellung zum Nationalsozialismus präsentierte, demonstrierten draußen zugleich Tausende unter dem Motto „Arnsberg steht auf“ gegen Rassismus und Rechtsextremismus. Der Grat zwischen Erinnerungskultur und Demokratieförderung in diesen Tagen ist schmal. In Sundern füllten etwa 1300 Menschen den Franz-Josef-Tigges-Platz und setzten ein Zeichen gegen Rechtspopulismus und Ausgrenzung. In beiden Städten hat sich ein breites gesellschaftliches Bündnis aus Politik, Wirtschaft, Kirche und Gesellschaft gebildet. Eine Bewegung für Vielfalt und Solidarität, die Mut macht. Deren Macht zum Schutz und zur Stärkung unserer Demokratie sich aber erst noch beweisen muss. Bei anstehenden Wahlen. Aber auch im Alltag, wenn wir klare Kante gegen rechtsradikale Parolen zeigen, statt wegzusehen und zu schweigen. Was vorerst bleibt, ist ein Wunsch, im Indikativ: dass wir im Rückblick von denen, die sich am Arbeitsplatz, im Freundeskreis, im Verein für demokratische Grundwerte und lebendige Vielfalt in Arnsberg und Sundern stark machen, werden behaupten können: Es waren viele. Und viele waren Nachbarn.

Text und Fotos: Carina Middel

#Nie wieder ist jetzt!

In Sundern waren am 2. Februar rund 1.300 Menschen dem Aufruf eines aus Vereinen, Organisationen, Politik sowie Privatpersonen entstandenen Netzwerks gefolgt und haben für Demokratie und Vielfalt, gegen Rechtsextremismus und Ausgrenzung demonstriert. Die tolle Resonanz motiviert das Netzwerk, das sich mit gut 20 Akteurinnen und Akteuren zu einer Nachlese traf, aktiv weiterzumachen: „Unser Engagement darf kein Strohfeuer sein, sondern muss längerfristig angelegt werden. Das wird auch in den hunderten Städten so diskutiert, in denen ebenfalls überraschend gut besuchte Kundgebungen stattfanden“, so Mit-Initiatorin Irmgard Harmann-Schütz. In den kommenden Wochen geht es nun darum, der Netzwerk-Arbeit eine konkrete Form zu geben. „Wir werden aber auch mit einer weiteren Aktion schnell wieder ein öffentliches Zeichen setzen“, verrät Harmann-Schütz. Wer informiert bleiben oder aber selbst mit aktiv werden möchte, findet Infos unter www.sundern-ist-vielfalt.de .