Eine Zeitreise ins älteste Wohnhaus von Hallenberg
Hallenberg. Der Duft nach Kaffee zieht durch die niedrigen Räume, die hölzernen Dielen knarren. In der Zimmerecke bullert ein Ofen, eine Uhr tickt sachte wie zu Omas Zeiten vor sich hin. Wir sind zu Besuch bei Familie Schulze in der Hallenberger Burgstraße – in ihrem Fachwerkhaus, das vielen Passanten auf den ersten Blick vermutlich gar nicht besonders auffällt. So klein und unscheinbar dieses Haus vielleicht auch von außen wirkt, es hat eine besondere Geschichte – einmal für Hallenberg, denn es gilt mit seinem Baujahr von 1696 als ältestes Wohnhaus und generell nach Pfarrkirche und Unterkirche als eines der betagtesten Gebäude der Stadt. Und auch für Michael, Heike und ihren Sohn Niklas Schulze, die es bewohnen und mit viel Liebe, Ausdauer, Geld und Herzblut erst zu dem gemacht haben, was es heute ist. Das kleine Häuschen im Schatten des Hallenberger Kirchturms hat fast die Hälfte der 1231 gegründeten Stadt mit erlebt. Der Dreißigjährige Krieg war zu seiner Bauzeit noch nicht allzu lange ausgestanden. Nur ein paar Schritte weiter haben auf dem Marktplatz bis 1717 noch Hexenprozesse stattgefunden. 1724 und 1736 gab es zwei schlimme Pestepidemien, deren Tote schräg gegenüber hinter der damals noch existierenden und erst 1811 abgebrochenen Stadtmauer verscharrt wurden. 1883 fielen dem großen Stadtbrand fast 100 Häuser ganz oder teilweise zum Opfer. Links über die Straße liegt das heute noch betriebene alte Backhaus, das mindestens aus dem Jahr 1664 stammt. Auf dem direkt gegenüber befindlichen Burgplatz mit der über 150 Jahre alten Friedenseiche sollen bis Mitte des 19. Jahrhunderts noch Spuren der ca. 1405 abgebrannten Hallenberger Burg zu finden gewesen sein, deren Existenz 2017 bei archäologischen Grabungen bestätigt wurde. Über Jahrhunderte lag dieser Burgplatzbrach, bis er 2018 neu gestaltet und belebt wurde. Die winzigen Durchgänge zwischen den Häusern in der direkten Nachbarschaft wirken wie private, unbefestigte Pfade, doch tatsächlich sind sie ein typisches Merkmal für die in der Hallenberger Altstadt noch erhaltenen kleinen Gassen.
Mehr Scheune als Wohnhaus
Bis vor knapp 40 Jahren war das besagte Häuschen mehr Stall oder Scheune als Wohnhaus …. und dem Abbruch deutlich näher als dem Weiter-Existieren. Ein älterer Mann – in Hallenberg unter „Ernstjes Jupp“ bekannt – wohnte dort sehr ärmlich und betrieb eine kleine Schäferei. In dem fast fensterlosen und innen fast komplett offenen Fachwerk-Gebäude hatte er sich nur einen einzigen Raum über dem Stall mit einem Holzherd, einem Tisch samt Stuhl und einer Pritsche zum Schlafen eingerichtet. Wasser holte er mit dem Eimer aus einem Brunnen, als Toilette diente der Stall. Geheizt und gekocht wurde mit dem Holzherd. Einziger Luxus war eine trübe 40-Watt-Birne an einem über Putz verlegten Stromkabel. Ernstjes Jupp lebte sehr zurückgezogen. Kontakt hatte er nur zur Oma und den Eltern von Michael Schulze um die Ecke, die ihm über viele Jahre jeden Mittag ein warmes Essen brachten. Als Kind übernahm Michael oft diese Aufgabe und lernte dadurch die alte Kate kennen. In den 80er Jahren starb der alte Mann und vermachte der Familie Schulze sein Häuschen. Was nun? Was sollte man mit so einer Bruchbude anfangen – viel anders konnte man das Gebäude zu der Zeit nicht nennen. Erstmal passierte nichts, denn Michael Schulze arbeitete damals in Südhessen als Polizist. Als er einige Jahre später in die Nähe von Hallenberg versetzt wurde, hatte er beim Anblick des Häuschens ständig einen alten Schlager im Kopf:
„Das alte Haus von Rocky Docky
hat vieles schon erlebt.
Kein Wunder, dass es zittert,
kein Wunder, dass es bebt.
Das alte Haus von Rocky Docky
sah Angst und Pein und Not.
Es wartet jeden Abend aufs neue
Morgenrot.
Dieses Haus ist alt und hässlich,
dieses Haus ist kahl und leer,
denn seit mehr als fünfzig Jahren,
da bewohnt es keiner mehr.
Dieses Haus will ich bewohnen, komm‘
Vom Wandern ich zurück,
denn das Haus ist voller Wunder und
voll heimlicher Musik.“
Irgendwie hatte er sich in das kümmerliche Häuschen verguckt und überlegte, ob, wie und was man daraus machen könnte. Nach vielen Gesprächen mit Historikern, der Denkmalbehörde und einem auf Denkmalschutz spezialisierten Architekturbüro aus Brilon wagte er den Schritt und begann mit der Renovierung …. ein Schritt, der der Anfang eines langen Weges war, welcher wohl auch nie richtig enden wird.
Fachwerk, Lehmwände und Schiefer in Original-Bauweise
Knapp dreieinhalb Jahre hat Michael Schulze mit Familie und Freunden jede freie Minute in das Haus gesteckt, bis die ersten Räume bewohnbar waren. Die Fachwerkbalken waren teilweise morsch und mussten erneuert werden. Die Gefache wurden in Original-Lehmbauweise mit selbst angemischtem Lehm ausgefüllt, das Dach mit Schiefer in „altdeutscher Deckung“ eingedeckt. Innen gab es größtenteils nur offenen Stall und Heuboden, dazu einen alten Gewölbekeller und eine recht mitgenommene Holztreppe, die in das einzige Zimmer führte.
Fotos aus dieser Zeit dokumentieren die unzähligen Arbeitsschritte. Denn wer das Haus und seine perfekte Ausnutzung heute von innen sieht, kann sich den alten Zustand kaum vorstellen. Jeder Winkel ist ausgebaut, so dass die Wohnfläche heute 125 durchdachte Quadratmeter beträgt. Das ganze Haus erinnert an ein Wimmelbuch. Überall gibt es urige Kleinigkeiten zu entdecken – wie die alten abgetretenen Steine und Treppen im Eingangsbereich, die Haustür, die Klinken, der wieder aufgefrischte Holzherd, die selbstgehäkelten Gardinen und, und, und. Dazu kommen viele kleine Habseligkeiten, denn Heike Schulze hat ein ausgesprochenes Händchen für geschmackvolle Dekorationen.
Gewölbekeller mit alter Feuerstelle
Vor den Fenstern liegen bei unserem Treffen im Januar gerollte Decken gegen Zugluft – aus einem guten Grund: Sie sind originalgetreu aus massivem Eichenholz mit Fensterhaken und Einfachverglasung nachgebaut worden. Die Treppe und die wenigen Türen wurden behutsam von einer Fachfirma restauriert, weitere entsprechend angefertigt. Dabei war jedes Maß anders, weil es kaum eine gerade Wand gibt. Der Weg in den Keller gleicht einer echten Zeitreise: Ein niedriges und gerade zu filmreifes Gewölbe aus Bruchsteinen und eine alte Feuerstelle, auf der vor Jahrhunderten gekocht worden ist. „Wohnen in einem Schmuckkästchen“, sagt Heike Schulze, die aus dem Essener Süden stammt. Das bald 330 Jahre altes Zuhause der kleinen Familie ist eine ewige Baustelle. Vielleicht wäre das in einem Neubau nicht so. Aber das wollen die drei gar nicht wissen. Denn:
„Das alte Haus von Rocky Docky hat
vieles schon erlebt.
Kein Wunder, dass es zittert, kein
Wunder, dass es bebt.
Dieses Haus will ich bewohnen, komm‘
Vom Wandern ich zurück,
denn das Haus ist voller Wunder und
voll heimlicher Musik.“