Spannende Entwicklung der alten Schule in Willingen

Zusammen mit Ortrud Thiel geht es auf eine Reise in die Vergangenheit
Wenn die Mauern der alten Schule in Willingen sprechen könnten, hätten sie viel zu
erzählen. 1921 wurde mit dem Bau der Schule begonnen, ab 1922 fand dort der Unterricht statt. Jemand, der sehr viel über das Gebäude weiß, ist Ortrud Thiel. Sie ist die Schrift-
führerin des Heimat-, Kultur- und Geschichtsvereins Willingen und war früher sogar
Lehrerin an dieser Schule. Die HEIMATLIEBE hat sich zusammen mit ihr auf eine Reise
in die Vergangenheit begeben. 

Rund eine Million Mark mussten in der damaligen Gemeinderatsitzung für den Bau und die Ausstattung der Schule zur Verfügung gestellt werden. In dieser Summe waren auch Wegesanierungen und Beschaffung des Brennmaterials für die Schule enthalten. Kurz nach der Einweihung der Schule wurde eine Wohnung für den Schuldiener gebaut. 1933 wurde die Schule einer gründlichen Instandsetzung unterzogen und mit einer Dampfheizung ausgestattet.
Ortrud Thiel hat im Jahr 1964 an der alten Schule ihren Dienst begonnen, aber sie weiß einiges über die Zeit vorher an der Schule. „Die Schule hatte nur drei Klassenräume und zwei Lehrerwohnungen. Es mussten aber acht Jahrgänge untergebracht werden. Man packte einfach mehrere Klassen zusammen und unterrichtete sie gemeinsam. In Willingen fasste man das 1. und 2., 3. und 4., 5. und 6. und 7. und 8. Schuljahr zusammen. So entstanden vier Klassen, und so musste dann der Unterricht in Schichten erfolgen“, berichtet die Willingerin. 

Lehrer bauten Gemüse und Kartoffeln an
Auf dem Dach des Gebäudes sei ein Türmchen gewesen, in dem eine kleine Glocke hing, erzählt Ortrud Thiel. Diese habe um 7.45 Uhr geläutet und damit alle Schüler zum Unterricht gerufen. „Sie wurde jeweils von einem der Lehrer bedient. Es gab aber auch eine Sirene, die bei Feuer und während des Krieges bei Luftalarm ausgelöst wurde“, so Ortrud Thiel. Die Schule hatte damals für jeden der beiden Lehrer, die in der Schule wohnten, zur Seite hin einen Garten, in denen sie in den Hungerjahren nach dem Krieg Gemüse und Kartoffeln anbauten. Es gab Beerensträucher und Spalierobst. Einer der Lehrer hatte lange Jahre dort eine Imkerei. „Oft geschah es, dass einer der männlichen Lehrer einen Schüler oder eine Schülerin, die mit ihrer Arbeit fertig waren, in den Garten schickte, um Unkraut zu jäten oder Beeren zu pflücken“, erzählt die Schriftführerin des Heimat-, Kultur- und Geschichtsvereins Willingen. 

Schülerschar holte die Ernte ein
Man erzählt sich auch folgende Geschichte, berichtet die seit 2000 pensionierte Lehrerin aus Willingen: „Nachmittags während des Unterrichtes schaute Lehrer Scholl sorgenvoll zum Himmel, denn vom Hoppecketal zogen schwarze Wolken herauf, ein Gewitter drohte. Er hatte seine Gerste geschnitten und getrocknet und wollte sie bald vom Feld nach Hause holen, aber während des Unterrichtes ging das natürlich nicht. Die Schüler bemerkten seine Nöte und fragten nach der Ursache. Die gesamte Klasse brach auf und zog zum Feld des Lehrers, das zwischen Jaustes und Balzes lag. Jedes Kind klemmte sich einige Garben unter den Arm, und es ging schnurstracks wieder zur Schule zurück. Auf diese Weise wurde die Ernte vor dem Regen gerettet. So war dem Lehrer geholfen, und die Kinder hatten sich erfolgreich vor dem Nachmittagsunterricht gedrückt und dabei noch eine gute Tat getan. Die Gerste brauchte Lehrer Scholl zum Schweine füttern, denn damals bekamen die Pädagogen noch nicht sehr viel Gehalt und hielten Tiere, bebauten einen Acker und zogen Gemüse in einem Garten. Der Schweinestall war auch in dem kleinen Haus direkt neben der Schule untergebracht“. 

Mehr als 50 Kinder in manchen Klassen
In den Nachkriegsjahren seien die Klassenräume hoffnungslos überfüllt gewesen, denn zu den einheimischen Kindern seien noch die Vertriebenen und Evakuierten gekommen, die in Willingen Zuflucht gefunden hatten. „In manchen Klassen saßen mehr als 50 Kinder und wenn alle da waren, mussten einige am Pult des Lehrers sitzen. Man löste später das Problem, indem man wieder einige Klassen auslagerte, zum Beispiel im Pfarrhaus und in der Gemeindehalle“, berichtet Ortrud Thiel. Dieser Zustand habe bis 1965 angehalten. Dann wurde die Mittelpunktschule eröffnet – ein Neubau, in dem Kinder aus zehn Gemeinden unterrichtet wurden. 

100 Meter zwischen den Schulgebäuden
Die Kinder der Willinger Grundschule wurden aufgeteilt. Das 1. Schuljahr mit zwei Klassen und eine Klasse des 2. Schuljahres blieben im alten Schulgebäude, eine Klasse des 2. Schuljahres und die dritten und vierten Klassen wurden in den neuen Schulteilen unterrichtet. Diese liegen ungefähr 100 Meter entfernt, und dort befindet sich auch die Sporthalle. „Die Kinder aus der alten Schule mussten also zum Sportunterricht dorthin und auch wieder zurückgeführt werden. Das war oft ein schwieriges Unterfangen, denn es musste eine Straße überquert werden. Der Wechsel von unten nach oben und wieder zurück geschah in den Pausen. Also war man immer in Eile. Kinder und Lehrer hatten kaum Zeit, ihre Pausen zu genießen“, so Ortrud Thiel.

Eine Oase für Lehrer und Kinder
Ansonsten sei die Alte Schule mit ihrem großen Schulhof eine Oase für Lehrer und Kinder gewesen. Sie seien dort ungestört gewesen. „Man konnte auch mal die Pausen ausdehnen und zum Beispiel im Winter Iglus und Schneemänner bauen, im Sommer Kastanien von einem Baum auf dem Schulhof sammeln und später im Unterricht damit basteln. Geburtstagskinder durften oben auf der Treppe stehen. Dann wurde ein Geburtstagslied gesungen. Nicht nur das Kind hörte voller Stolz zu, auch viele Fußgänger blieben stehen und freuten sich an dem Gesang“, weiß die Willingerin. 

Mäuse nutzen Bilder der Kinder zum Nestbau
Damit diese Klassen nicht ganz abgeschnitten vom sonstigen Geschehen der Schulgemeinde blieben, installierte man später ein Telefon, das seinen Platz im Schrank hatte. Dort rief dann oft der Rektor an, um sich zu erkundigen, ob auch alles in Ordnung sei. „Außer den Kindern lebten in den Räumen auch Mäuse. Man bekam sie nicht zu Gesicht. Aber man bemerkte ihr Vorhandensein, weil sie während der Sommerferien alle Papiere, die in den Schränken gelagert waren, zerkleinert und wahrscheinlich zum Nestbau benutzen hatten. Auch die Zeichnungen, die die Kinder mit viel Freude angefertigt hatten“, so Ortrud Thiel. 

Erinnerungen an Grete Sumpf
Die Alte Schule in Willingen verbindet man auch mit dem Namen Grete Sumpf. Obwohl sie nur kurze Zeit im Dorf lebte und Anfang der 30-er Jahre als Lehrerin an der Alten Schule beschäftigt war, hat sie laut Ortrud Thiel einen bleibenden Eindruck bei ihren Schülern hinterlassen. „Den Erstklässlern machte sie zum Schulanfang ein kleines Geschenk und schrieb ihnen außer den normalen Noten gereimte Bemerkungen unter ihre Arbeiten und in ihre ersten Zeugnisse. „Die wenigen ehemaligen Schüler, die heute noch leben, erinnern sich gerne an sie“, weiß Ortrud Thiel. Sie sei den Kindern sehr zugetan gewesen und habe sich über ihren normalen Unterricht hinaus um sie gekümmert. Dazu zählten Ausflüge mit der Eisenbahn ins Sauerland genauso wie Spaziergänge der Natur, wo die Kinder die Pflanze und Tiere in der Umgebung kennenlernten.

Die Schule in Kriegszeiten
Ende 1944 bis Mitte 1945 diente die Schule als Unterkunft für Fremdarbeiter und im März als Gefechtsstand für die amerikanischen Truppen. „Der provisorische Unterricht fand zwischenzeitlich in der Jugendherberge, in der Gemeindehalle und Gasthöfen statt und kam ab April 1945 ganz zum Erliegen. Am 1. Oktober 1945 begann der Unterricht wieder mit zwei Lehrkräften und 250 Schülern“, berichtete Ortrud Thiel. Nach dem Krieg mussten die männlichen Lehrer entnazifiziert werden. „Es gab nur noch eine einzige weibliche Lehrkraft, Frau Bangert, die den Unterricht aufrechterhalten konnte. Sie unterrichte die Klassen eins bis vier morgens und die Klassen fünf bis acht am Nachmittag. Es dauerte ein ganzes Jahr, bis die anderen Lehrkräfte wieder anfangen durften“.

Kein Lehr- und Lernmaterial
Der Unterricht gestaltete sich sehr schwierig, weil es zunächst keinerlei Lehr- und Lernmaterial gab. Es gab weder Hefte, Bücher oder noch Stifte. Die Kinder behalfen sich damit, dass sie von der Schieferhalde Platten holten und Schieferstückchen zu Griffeln umfunktionierten, um damit zu schreiben. Im Winter war es sehr kalt in der Schule, weil kein Brennmaterial vorhanden war. Die Kinder brachten Holzstücke mit, die dann ein wenig Wärme erzeugten. 

Verkauf der alten Schule
2005 wurde die Mittelpunktschule mit dem Gymnasium zu einer kooperativen Gesamtschule zusammengefasst. Sie bestand aus Grund-, Haupt-, Realschule und Gymnasium. Auf dem Gelände der Gesamtschule wurde auch ein Gebäude für die Grundschule errichtet. Die alte Schule stand leer und wurde an das Pflegehotel verkauft.

Text: Carmen Ahlers, Fotos: Privat