IM EINSATZ MIT DEN KITZRETTERN – EHRENAMTLICHE HELFER RETTEN REHKINDERN DAS LEBEN
„Sonntag, 4.30 Uhr, Treffpunkt Schützenhalle Deifeld“. So lautet die kurze Info für einen HEIMATLIEBETermin mit hohem Flausch-Faktor, der jedoch einen sehr wichtigen und ernsten Hintergrund hat: Ein Einsatz mit den Kitzrettern. Kitzretter, das sind ehrenamtliche Helfer, die vor dem Heu- und Silomähen im hochgewachsenen Gras nach Rehkindern suchen, damit diese nicht in die Mähwerke kommen.
Die ersten Grasschnitte in der Landwirtschaft fallen zeitlich mit der Setzzeit der Rehe zusammen. Meistens im Mai und Juni werden die Kitze im hohen Gras geboren, also „gesetzt“, und dort auch abgelegt und nur zum Säugen aufgesucht. Was im ersten Moment lieblos klingt, hat die Natur so eingerichtet: Die Ricken halten sich bewusst kaum bei ihren ganz jungen Kitzen auf, um die Aufmerksamkeit nicht auf sie zu lenken. Nach zwei bis vier Wochen können die Rehkitze ihrer Mutter erst folgen und haben vorher auch keinen Fluchtinstinkt. Stattdessen ducken sie sich ganz tief ins Gras – an sich eine gute Tarnung, zumal sie in diesem Alter noch völlig geruchslos sind und deshalb schwer von Fressfeinden gefunden werden. Aber gegen eine Mähmaschine haben sie so keine Chance. Wer einmal ein zerfetztes Kitz gefunden hat, ob noch lebend oder tot, vergisst diesen Anblick nie wieder!
2019 VEREIN GEGRÜNDET
Deshalb haben einige Tierfreunde 2019 den Verein „Kitzrettung Medebacher Bucht eV“ gegründet und bieten den Landwirten im Raum Medebach, Winterberg und Hallenberg ihre Hilfe an. Diese besteht darin, dass nach vorheriger Absprache die zu mähenden Wiesen akribisch abgesucht werden, ob sich Rehkitze dort verstecken. Ein Ehrenamt, das eine Menge Zeit und Enthusiasmus braucht und viel zu wenig bekannt ist!
An diesem sehr frühen Juni-Sonntag ist das Wetter kühl und nieselig. Ungemütlich für die Helfer, aber gut zum Suchen, denn in kühler Umgebung sind die warmen Tierkörper leichter von der Kamera aufzuspüren. Weil die Temperaturen niedrig bleiben, kann auch länger bis in den Nachmittag hinein gesucht werden. Es steht ein strammes Programm mit mehreren Wiesen in Oberschledorn, Küstelberg, Winterberg, Elkeringhausen, Medelon, Hesborn und Hildfeld an. Zwei Teams sind unterwegs, die aus einem Drohnen-Piloten und mehreren Läufern bestehen. Immer wieder sind entsprechende Flecken auf dem Drohnen-Monitor zu sehen. Die Kamera kann stark vergrößern, aber manchmal geht zur Sicherheit ein Helfer mit einem großen Kescher zur betreffenden Stelle hin. Auf dem Weg dorthin liegt Spannung in der Luft. Ist es wirklich ein kleines Kitz? So mancher Weg ist umsonst, dann handelt es sich um Ameisenhaufen oder Maulwurfshügel, die sich in der langsam aufkommenden Sonne stärker erwärmen als bewachsene Umgebung.
WIE EIN SECHSER IM LOTTO
Wenn ein Kitz entdeckt wird, ist das für die Helfer jedes Mal wie ein Sechser im Lotto. Die Tierchen werden mit Handschuhen und Grasbüscheln aufgenommen, damit sich auf keinen Fall der menschliche Geruch auf sie überträgt. Denn das würde bedeuten, dass die Ricke ihr Junges nicht mehr annimmt. Dann werden die Kitze vorsichtig in spezielle Kisten gelegt und darin an den Wiesenrand, ggf. in den Schatten, gestellt. Diese Kisten sehen aus wie Wäschekörbe und haben einen roten Deckel mit Warnaufschrift. Wer sie zufällig findet, sollte sie also auf keinen Fall berühren oder gar öffnen. Manchmal kommt es vor, dass die Ricke eine Kiste mit ihrem Kitz findet und in der Nähe bleibt oder sich sogar daneben legt. Wenn die Wiese fertig gemäht ist, lassen die Landwirte oder die Ehrenamtlichen die Kitze so schnell wie möglich wieder frei, Mutter und Kind finden sich wieder.
An mehreren Wiesen stehen die Landwirte oder Lohnunternehmer an diesem Sonntag schon parat und warten auf das grüne Licht der Kitzretter, um danach sofort zu mähen. Die Meteorologen versprechen nach Wochen der Unbeständigkeit nun einige Tage trockenes Wetter, deshalb stehen fast alle gleichzeitig in den Startlöchern. Per Gesetz sind Landwirte verpflichtet, dafür zu sorgen, dass bei den Mäharbeiten keine Kitze verletzt oder gar getötet werden. Die Zusammenarbeit mit den Kitzrettern hat sich mittlerweile herumgesprochen – auch bei Jagdpächtern und Jägern, man kennt sich, viele Landwirte rufen am Tag vor dem Mähen an, damit die Freiwilligen ausrücken können, und stimmen ihre Zeitpläne entsprechend ab.
SUCHE IST DURCH DROHNEN SCHNELLER GEWORDEN
Die Suche nach den Kitzen hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Durch den fehlenden Eigengeruch musste anfangs noch nach einer Ricke Ausschau gehalten werden in der Hoffnung, dass man über ihre Bewegungen die Lagerstelle ihres Kitzes findet. Später wurde mit Menschenketten gearbeitet, die nebeneinander die Wiesen abliefen. Dann kamen Flatterbänder und Vergrämer – kleine akustische Geräte, die im Vorfeld auf den Mähwiesen verteilt wurden, um durch Störgeräusche und Lichtsignale die Ricken zu „vergrämen“, also davon abzuhalten, ihre Kitze dort abzulegen.
Seit einigen Jahren sind nun ausschließlich Drohnen im Einsatz. Einige Freiwillige des Vereins haben dafür extra einen Drohnen-Führerschein gemacht, ohne den man nicht fliegen darf. Mit Wärmebildkameras werden die Wiesen dabei aus der Höhe abgescannt. Diese Technik hat die Effektivität der Kitzretter deutlich erhöht, denn auf diese Weise können wesentlich mehr Flächen in kürzerer Zeit kontrolliert werden. Ein großer Vorteil, denn gerade in so durchwachsenen Sommern wie aktuell schrumpfen die Zeitfenster zum Mähen für die Landwirte zusammen. An diesem einen Juni-Sonntag werden es am Ende 12 Kitze sein, denen das Leben gerettet wird, darunter zwei Zwillingspärchen und sogar einmal Drillinge.
Im vergangenen Jahr konnten insgesamt 164 Rehkinder gefunden und dafür über 1.000 Hektar Wiesen abgesucht werden. In diesem Sommer sind es allein bis Redaktionsschluss schon über 150 Kitze und 1.500 Hektar. Unzählige Stunden Arbeit haben die Kitzretter dafür investiert, oftmals sind sie in den entscheidenden Wochen morgens früh noch vor der Arbeit auf die Suche gegangen. Die Einsätze erfolgen komplett ehrenamtlich. Für die Ausrüstung mit Drohnen, Akkus oder Rettungskisten fallen jedoch hohe Kosten an, die durch Spenden und Mitgliedsbeiträge finanziert werden. Der Verein freut sich daher sehr über Unterstützung!
Wie kann man helfen?
- durch eine Vereinsmitgliedschaft mit einem Jahresbeitrag von 25 Euro
- durch Geldspenden auf das Vereins-Konto IBAN DE62 4606 2817 0015 6056 00 Spendenquittungen sind möglich.
Aktuelle Informationen und Fotos von den Suchen gibt es bei Instagram unter „Kitzrettung Medebach“.
Text: Rita Maurer